Prof. Dr. Maik Hosang

Philosoph, Zukunftsforscher und Sozialökologe, Görlitz

Wer oder was befreit uns von der Selbstzerstörung der Natur in und um uns? – Alle Landschaften der heutigen westlichen Welt sind Kulturlandschaften. Selbst Natur- oder Landschaftsschutzgebiete gibt es nur deshalb, weil bestimmte Intentionen und Interessen der modernen Kultur und Gesellschaft sich dafür einsetzten. Doch – wie jeder mehr oder weniger weiß – die überwiegenden Tendenzen moderner Landschaftsentwicklung sind nach wie vor nicht nachhaltig, sondern – wie mein Freund und Lehrer Rudolf Bahro betonte – exterministisch, d.h. zerstörerisch. Ob die trotz hier in der westlichen Welt eigentlich sinkender Bevölkerungszahlen weitergehende Versiegelung von Naturflächen für Industriegebiete, Straßen oder (Einfamilien-)häuser; oder die weitergehende Verdrängung und Auslöschung von Tier- und Pflanzenarten durch landwirtschaftliche „Flurbereinigungen“ oder „Pflanzenschutzmittel“ – jedem zugängliche und durch die Medien ausreichend oft verbreitete Belege dafür gibt es genug.

Angesichts dieser offensichtlichen Zahlen und Tendenzen bekommt jeder sensible und in Herz und Geist mit der Natur verbundene Mensch hin und wieder Depressionen und Zweifel am Sinn seines Lebens und Tuns. Doch das hilft uns nicht weiter. Deshalb braucht es neben mehr Mitgefühl für die Natur auch einen übergreifenden, kulturphilosophischen Blick, um Anhaltspunkte möglichen Handels für eine andere Perspektive zu gewinnen. Die irdische Natur wird nicht untergehen, sie hat in ihren Millionen Jahren bereits andere Katastrophen überstanden. Doch auch der Mensch selbst leidet inzwischen nicht nur physisch – durch zunehmende Allergien etc. –, sondern auch seelisch unter der in modernen Wirtschaften und Gesellschaften strukturell schwierigen Beziehung zur Natur.

Um dies einzuordnen ist zuerst einmal anzuerkennen und zu verstehen, dass die moderne Herrschaft des Menschen über die Natur erst seit wenigen Jahrzehnten so überwiegend „gelungen“ ist und aus bestimmter Perspektive eine Emanzipation des Menschen selbst darstellt. Moderne Wissenschaft und Technik ermöglicht eine relative Befreiung des Menschen von den „Launen der Natur“, von der viele frühere Generationen nur träumen konnten. Oder wenn wir es mit der Maslowschen Bedürfnispyramide erklären wollen: Erst die mehr oder weniger sichere Befriedigung der „Überlebensbedürfnisse“ möglichst aller Menschen macht den Weg frei für eine stärkere Konzentration auf unsere „Wachstumsbedürfnisse“. Und da die Menschheit global gesehen in dieser Hinsicht noch einiges zu tun hat – schätzungsweise erst die Hälfte der Menschheit hat ausreichend gesunde Nahrung, Wohnung etc. –, wirkt dies in Zeiten globaler Kommunikation auch noch unmittelbar auf uns bereits mehr oder weniger übersättigte Wohlstandsbürger zurück: Trotz mehr als ausreichend großer Nahrungsmittelmengen, Wohnungsgrößen, Sicherungssysteme etc. plagen uns Deutsche noch immer große Lebensängste – und bewirken trotz besseren Wissens ein relativ ungebremstes „weiter-so“-Wachstum von Schweinemastanlagen, Einfamilienhäusern, großen PKW´s oder Waffenproduktionen.

Doch was uns im gerade Gesagten physisch und seelisch plagt, lässt sich aus anderer Perspektive auch als relativ neuartige Chance zur Befreiung von Natur- und Selbstzerstörung und zur Entwicklung neuer, ästhetischer Synergien von Natur und Kultur in und um uns betrachten. „Die Eule der Minverva beginnt ihren Flug in der Dämmerung“, so umschrieb Georg Wilhelm Hegel die Tatsache, dass wir Menschen offenbar erst dann in größerer Zahl weiterdenken, wenn die Not bzw. Notwenigkeit dazu bereits mehr oder weniger deutlich ist. Positiv gesehen also haben ca. 50 % der Menschheit heute den Kopf zumindest theoretisch mehr oder weniger frei von Überlebensstress. Und von diesen wiederum neigen inzwischen 10-20 %, die sogenannten „Kulturell Kreativen“ oder „Lohas“ (Lifestyle of Health and Sustainability), dazu, sich tatsächlich für nachhaltige Transformationen der modernen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einzusetzen. Und von diesen wiederum haben vielleicht 10-20 % nicht nur Sehnsucht nach einer zukunftsfähigen Welt, sondern auch ausreichend persönlichen Mut, Liebe, Kreativität und Entschlossenheit, um nicht in mehr oder weniger grünen Nischen dahinzuleben – sondern die heutige Situation als einzigartiges Abenteuer der Entwicklung einer vielleicht wundervollen und wunderschönen neuen Welt zu sehen und ihr Leben und Tun als fröhliche und kreative Herausforderung der kokreativen Gestaltung dieser Zukunft zu verstehen.

Wenn wir diese allgemeine Situation auf das Leben und Tun von Architekten oder Landschaftsgestaltern herunterbrechen, so zeigt sich dies wie folgt: Ein Teil davon ist aufgrund innerer Ängste oder scheinbarer äußerer Abhängigkeiten nach wie vor damit beschäftigt, mehr oder weniger trostlose Gewerbegebiete oder Einfamiliensiedlungen auf zuvor grünen Wiesen zu planen. Ein allmählich wachsender Teil jedoch empfindet dies als unsinnig und sieht auch seine unternehmerischen Chancen vielmehr darin, alte und hässliche Industrie- und Wohnbauten in neuartige kreative und ökologische Wirtschafts- und/oder Wohngebiete zu verwandeln. Und je mehr dies in unseren reichen westlichen Welten werden, desto hoffnungsvoller wird die Lage. Denn wer wenn nicht wir dafür ausreichend gebildeten und privilegierten Wohlstandbürger müssen für all die noch weniger privilegierten und daher letztlich noch angstanfälligeren Menschen die Modelle und Vorbilder einer neuen, lebens- und liebenswerten Zukunft entwickeln.

Das Problem oder in philosophischer Hinsicht sogar Lustige dieser heutigen Situation ist also kurz gesagt wie folgt: Noch nie hatten so viele Menschen dieser Erde die Chance dazu, ein nicht nur gesundes, sondern auch sinnerfülltes Leben und Arbeiten zu praktizieren. Doch dieses entsteht nicht automatisch, sondern braucht in jedem individuellen Leben das, was der Philosoph Martin Heidegger einst „Die Entscheidung“ nannte. Oder um mit Paulo Coelho zu sprechen: „Unser Ziel im Leben sollte sein: Lernen zu Lieben. Immer besser zu lieben. Alles wird vergehen am Ende unseres Lebens, unser Körper, unsere Titel, unser Besitz etc. Aber etwas wird in der Weltenseele für immer eine Spur hinterlassen: Meine Liebe.“