Prof. Dr. Stefan Kurath

Architekt und Urbanist, Zürich und Graubünden

„ Also jedenfalls … dann nach den Wohnwägen, da fährst’ auf eine Schredderanlage zu, ja … und daneben ist eine Sondermüllanlage. Da kannst’ aber nicht reinfahren, da musst’ eh rechts vorbei. Da wird’s auch schon a bissl ländlicher. Da merkst’ dann schon, dass du von der City wegkommst. … Nur immer weiter … Dann kommt wieder so ein Industriepark.“ Die Wegbeschreibung von Gerhard Polt aus dem Jahre 1984 würde wohl heute nicht anders klingen. Gesichts- und identitätslos war Bayern damals schon. Bayern gibt es nicht! Dies vermutlich der allgemeine Tenor in Architektur und Städtebau als Replik auf Polts Geschichte.

Bayern gibt es nicht – zumindest nicht das Bayern das man gerne hätte, das Bayern mit richtiger Stadt und richtigem Land. Das richtige Bayern existiert in den Köpfen der Architekten und Architektinnen, in ihrer disziplineneigenen Ideengeschichte und Theorie von Stadt und Land. Nur zeichnet sich im Alltag eine seltsame Diskrepanz zwischen Idealvorstellung und Stadtwirklichkeit ab. Der aus Geschichte und Theorie abgeleitete Rezeptblock mit Dichte, Ordnung, Architektur zur Behebung städtebaulicher Probleme und Ausbildung von räumlicher Identität ist offensichtlich wenig raumwirksam.

Mitnichten ist dies eine bayrische Eigenart, als vielmehr Ausdruck einer Jahrzehnte andauernden disziplinären Krise – europaweit. Offenbar referenzieren und rezipieren wir Architekten und Architektinnen mit unseren Rezepten an der Welt vorbei. Theorie und Geschichte in Architektur und Städtebau, wie die mit diesen an den Hochschulen gelehrten Handlungstheorien scheinen im Bezug zum Raum heutzutage vor allem eines: irrelevant. Nicht weil die Inhalte falsch wären, sondern weil die gesellschaftliche Entsprechung offensichtlich fehlen. Auch wenn Architektinnen und Architekten wissen wie Stadt und Land auszusehen haben, kaum jemand will ihren Vorgaben noch Folge leisten.

Offensichtlich hat Architektur und Städtebau den Kontakt zu ihrer Außenwelt verloren. Zu sehr mit sich und der eigenen Geschichte beschäftigt, haben wir uns als Denkkollektiv und Disziplin von den alltäglichen Dingen Schritt für Schritt entfernt.

Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Sich mit der städtebaulichen Praxis und der ihrer Disziplin zu beschäftigen! Unser Bayern gibt es nicht – wird es nie geben! Dieser Ausgangspunkt ermöglicht einen neuen Blick – nicht nur auf Bayern, auch auf den Diskurs der Stadtlandschaften. Die Modernen Wissenschaften haben uns gelernt, dass alles zugeteilt, eingeteilt, aufgeteilt, festgestellt, festgehalten, festgeschrieben, verglichen, verallgemeinert werden kann, bis die Stadtwirklichkeit eben Stadt oder Land oder das Dazwischen ist. Diese Reduktion führt dazu, dass das Spezifische, das Lokale, das Einzigartige zugunsten der Kategorienbildung entfernt wird. Die daraus resultierende Distanz zur Stadtwirklichkeit und damit einhergehend die daraus resultierenden Unterscheidungsblindheiten in Theorie und Ideengeschichte sind denn auch bestimmend für die heutige disziplinäre Krise.

Fügen wir unserem Denken wieder Realismus hinzu, indem wir uns mit der disziplinären wie auch der gesellschaftlichen Praxis befassen, zeigen sich die Stadtlandschaften als „kollektives Experiment im gesellschaftlichen Labor“. Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass sich die Entstehungsgeschichte eines jeden Ortes sich von derjenigen der anderen unterscheidet. Jeder Ort wird im Rahmen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse tagtäglich wieder neu zusammengesetzt, verändert. Nur wer sich als Teil davon versteht, eine Beziehung dazu herstellt, wird an dieser Realität mitarbeiten können. Damit wird auch offenkundig, was Identität meint – die biografische Bindung des Selbst zum Raum.

Es ist also an der Zeit nicht mehr länger den Verlust von Zuständen zu beklagen – Zustände die es nie gegeben hat und nie geben wird. Es ist an der Zeit sich dem Alltag wieder hinzuwenden, um zu verstehen wie etwas wirklich ist – mit dem Ziel die Verknüpfungen zwischen disziplinären Inhalten und Stadtwirklichkeit wieder herzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Stadtlandschaft als gelebter Raum, sowie das Entwickeln von Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten sind dabei ein Weg in die richtige Richtung. Dieses Vorgehen führt nicht nur dazu, dass Menschen ihre Beziehungen zum Raum (wieder) erneuern, es befördert – was viel notwendiger scheint – dass die Architektinnen und Architekten (wieder) proaktiv mit der realen Welt in Kontakt treten.