Prof. Dr. Wolfgang Sonne

Architekturhistoriker und Architekturtheoretiker

Endlich die Baugesetzgebung der Leipzig Charta anpassen! Die 2007 von den europäischen Bauministern verabschiedete „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ zeichnet sich durch eine grundsätzlich positive Haltung zu den in Europa über lange Zeiträume entstandenen Städten aus: „Unsere Städte verfügen über einzigartige kulturelle und bauliche Qualitäten, große soziale Integrationskräfte und außergewöhnliche ökonomische Entwicklungschancen. Sie sind Wissenszentren und Quellen für Wachstum und Innovation.“ Auf der Basis dieser Analyse folgt sie dem Leitbild einer kompakten Stadt: „Eine wichtige Grundlage für die effiziente und nachhaltige Nutzung von Ressourcen ist eine kompakte Siedlungsstruktur. Diese kann durch eine Stadt- und Regionalplanung, die eine Zersiedelung des städtischen Umlandes verhindert, erreicht werden.“ Für diese kompakte Stadt fordert sie explizit das Prinzip der Nutzungsmischung, wie es sich in vielen europäischen Städten zumeist findet: „Als besonders nachhaltig hat sich dabei das Konzept der Mischung von Wohnen, Arbeiten, Bildung, Versorgung und Freizeitgestaltung in den Stadtquartieren erwiesen.“ Und schließlich stellt die Leipzig Charta nicht allein funktionale, politische, soziale, ökonomische oder ökologische Forderungen auf, sondern hat auch explizit städtebauliche Ansprüche. So fordert sie die „Herstellung und Sicherung qualitätvoller öffentlicher Räume“ und meint: „Deshalb muss das Zusammenwirken von Architektur, Infrastruktur- und Stadtplanung mit dem Ziel intensiviert werden, attraktive, nutzerorientierte öffentliche Räume mit hohem baukulturellen Niveau zu schaffen.“

Diesen Forderungen – Wertschätzung bestehender Städte, kompakte Stadt (heute meist „Stadt der kurzen Wege“), Funktionsmischung sowie bauliche Qualität öffentlicher Räume – steht die heute noch gültige Städtebaugesetzgebung vielfach diametral entgegen. Die 1962 entstandene Baunutzungsverordnung ist aus dem Geist der Stadtablehnung, wie ihn vor allem die Gartenstadt- und die Siedlungsbewegung formuliert hatten, entstanden. Sie folgt dem Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten“ sowie der „autogerechten“ Stadt, das kurze Wege verhindert. Schon in ihrer Grundstruktur, die städtische Fläche in getrennte Gebiete mit jeweils spezifischen Nutzungen aufzuteilen, widerspricht sie der Idee der Funktionsmischung. Und schließlich bieten ihre abstrakten Zahlenwerte von GFZ und GRZ keine Möglichkeit oder gar Gewähr, mit ihnen qualitätvolle öffentliche Räume zu schaffen. Hinzu kommen weitere Vorschriften wie die TA Lärm, die durch eine Bevorzugung des Verkehrslärms eine adäquate Nutzungsmischung von Wohnen, Gewerbe und anderen Tätigkeiten im vielfältigen Stadtquartier verhindert.

Ja, wer die autogerechte und die gegliederte und aufgelockerte Stadt immer noch will, soll gerne weiter diese Regelungen vertreten. Wer aber im Sinne der Leipzig Charta nachhaltige, kompakte, nutzungsgemischte und sozial vielfältige Stadtquartiere mit schönen öffentlichen Räumen befördern möchte, sollte sich für eine grundsätzliche Änderung der bestehenden Regelungen einsetzen. Denn welchen Sinn hat es – und welche politische Botschaft sendet es – wenn man das Ziel nur auf dem Weg der umständlichen Ausnahme erreichen kann? Hier sollte der Gesetzgeber mehr als 10 Jahre nach der Leipzig Charta seine Hausaufgaben machen, um diese Grundforderungen der Leipzig Charta auch im alltäglichen städtebaulichen Handeln als Normalfall baurechtlich umzusetzen. Denn die sozial und funktional vielfältige kompakte Stadt mit guten öffentlichen Räumen bietet das beste städtebauliche Prinzip, um die momentan dringlichsten Probleme wie mangelnden bezahlbaren Wohnraum, Klimawandel und soziale Segregation beheben zu helfen.