Im Münchner Osten entsteht mit dem Werksviertel ein neues Stadtquartier. Für München besonders: Statt Tabula Rasa werden die bestehenden Gebäude des ehemaligen Industrieareals integriert. Die bisher temporären Nutzungen, das Nachtleben, das diesen Ort in den letzten Jahren geprägt hat, werden verstetigt, neue Nutzungen kommen hinzu. Ein zeitgemäßes Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Gewerbe, Industrie und Unterhaltung.
Mit der aktuellen Ergänzung der BauNVO um die neue Kategorie „Urbanes Gebiet“ soll das Leitbild der „urban gemischten Stadt“ in der Praxis besser umgesetzt werden können. Doch reicht diese Novellierung aus? Welche Stellschrauben sind essentiell, um eine vitale, kleinteilige Mischung jenseits einfacher, eindimensionaler Funktionalitäten zu fördern?
Johannes Ernst, Architekt, München
Weiterbauen! – Im “Werksviertel“, für welches die „Urbanen Gebiete“ als Instrumentarium leider zu spät kommen, haben wir – Steidle Architekten – versucht, das Modell der gemischten Stadt als Gegenthese zu den bislang monostrukturellen Entwicklungen unter unseren zeitgenössischen Bedingungen neu zu interpretieren.
Angelagert an den Bestand der industriellen Geschichte und Gegenwart des Ortes geht es zunächst und lange vor den architektonischen Konzepten um die Fortschreibung und Interpretation der vorhandenen, vielschichtigen Nutzungspotentiale. Die sehr erfolgreichen und expandierenden gewerblichen Betriebe (Gastrogroßhandel, Gewerbehof, Elektronikkonzern), das große Dienstleistungszentrum im Medienbereich (Media Works Munich) sowie die noch vorhandenen Potentiale der legendären Zwischennutzung durch den Kunstpark Ost sollten alle gleichwertig als Impulsgeber für das neue Areal dienen und am Ort bleiben. Als wichtigste neue Funktion sollten etwa 1000 Wohnungen samt sozialer Infrastruktur für 2500 Bewohner dazukommen, angelagert an die großen Wohnungsareale von Berg am Laim/Ramersdorf.
Die Möglichkeit der Weiterentwicklung dieser parallelen Existenzen wurde erst durch die komplexe Eigentumssituation geschaffen. Zahlreiche private Einzeleigentümer mit ihren jeweiligen Unternehmungen und Grundstücken widersetzten sich zunächst der ursprünglich vorgesehenen klassisch rationalen, „professionellen“ Immobilienentwicklung (und vor allem Immobilienverwertung) einiger anderer Eigentümer in Verbindung mit den Mechanismen der Stadtplanung: Tabula rasa, Bebauungsplan, neue Gebietskategorien, komplette Neuordnung von Grundstücken und vor allem der Verlagerung von vermeintlich störendem Gewerbe. Dann Architektenwettbewerbe und anschließend die Enttäuschung darüber, dass alles wieder furchtbar rational, abgewogen und langweilig geworden ist.
Erst das Konzept, die vorhanden inhaltlichen Potentiale zu nutzen, existente bauliche Strukturen der industriellen Vergangenheit zu reaktivieren (auch wenn sie in miserablem Zustand waren) und mit neuen Strukturen und Funktionen möglichst eng und intensiv zu überblenden, konnte alle Eigentümer begeistern und zum gemeinsamen Handeln bewegen. Die Vorstellung einer lebendigen, heterogenen Stadtstruktur war plötzlich stark genug, alle möglichen Schwierigkeiten dafür in Kauf zu nehmen, sowohl auf Eigentümer- als auch Stadtseite. Mit dem Bau der Medienbrücke hatten wir ein Beispiel für eine solche Strategie am Rand des Gebietes bereits entwickelt, somit war eine Grundlage für die Entwicklung und Vertiefung des Konzeptes bereits gegeben.
In unendlich vielen Sitzungen wurden Mischungsszenarien, Nachbarschaften, Querbeziehungen durchgespielt, wurden Eigeninteressen mit Gesamtinteressen abgewogen, wurden aufwändigste Lärmgutachten angefertigt, um die Nachbarschaft unterschiedlicher Dinge zu ermöglichen, wurde gestritten und gefeilscht. Für den Wohnungsbau haben wir als typologische Grundlage eine dichte Blocktopologie mit lebendigem öffentlichem Raum davor und ruhigen Innenzonen erarbeitet, in einer Dichte analog der urbanen Gebiete und einer Nähe zur „Altstadt“ des Quartiers wie die Gründerzeitstadt zum mittelalterlichen Kern. Im mit allen Eigentümern gemeinsam entwickelten Gestaltungsleitfaden wurden Geschosshöhen, Körnungs- und Materialvorgaben festgeschrieben. Der menschliche Maßstab sollte hier trotz aller Urbanität das Maß aller Dinge sein.
Die vier selbst definierten Nutzungskategorien Wohnen, Arbeiten, Leben (Einzelhandel, Gastronomie, Hotel, Unterhaltung, etc.) und Bewegen als Grundthemen wurden in ihren jeweiligen Bereichen maximal interpretiert. Vom klassischen Bürogebäude im internationalen Raster über die vielen gewerblichen Arbeitsplätze in den erweiterten Bestandsbetrieben bis hin zu individuellen Loftarbeitsplätzen sollen alle zeitgenössisch erforderlichen Arbeitsplatztypologien entstehen. Die weiterhin ortstypischen Zwischennutzungen durch „Instant Cities“ im Containerbau stellen einerseits günstige Mietflächen für junge Kreative (bis max.30 Jahre!) zur Verfügung, unterstützen aber vor allem die prozesshafte Entwicklungsstrategie dieses Stadtraumes.
Im Wohnungsbau entstehen neben den geförderten Wohnungen nach Münchner Modell große Mietwohnungsbereiche im Eigenbestand bis hin zur exklusiven Turmwohnung. Im Bereich „Leben“ reicht das Spektrum des Einzelhandels vom kleinen Blumenladen (in der Atelierstraße) bis zum großflächigen Quartierszentrum inklusive dem unvermeidlichen Nahversorger. Eine Reihe unterschiedlich geprägter Hotels nutzen das Programm des Ortes sowie die Lagegunst zum Ostbahnhof und damit auch zum Flughafen. Also zusammengefasst: Es entsteht ein Stück ganz normale Stadt! Und zum Schluss fügt sich dann auch noch der neue Konzertsaal als wirklich bedeutendes und herausragendes öffentliches Bauwerk in dieses urbane Gefüge ein.
Der intensive Dialog mit allen Beteiligten, unermüdliche Überzeugungsarbeit im Bereich der Eigentümer und die Entwicklung auf- und anregender Leitbilder sind die Grundlage einer Stadtentwicklung die über die derzeitigen Konzepte und Versuche hinausgeht. Im Zentrum steht jedoch der Ansatz bislang monofunktional genutzte Gebiete einer breiteren und damit wirklich urbanen Nutzung zuzuführen. Während im Bereich der Stadtplanung am Konzept der wirklich attraktiven und hochbegehrten Gründerzeitquartiere seit 1945 nicht mehr wirklich weitergearbeitet und ernsthaft geforscht wurde setzte man auf die Strategie der Entmischung. Fein säuberlich wurde das auch nur leicht störende Gewerbe aus den lebendigen Vierteln herausgetrennt, hinaus vor die Stadt in das neuerfundene Gewerbegebiet.
Resultat dieser Entmischung waren die offenen Bautypologien der Moderne mit den angemessenen Abstandsflächen und Dichten die zwar gut belichtete und mit ausreichend Freiraum versehene „hygienisch reine“ Quartiere ohne Dunkelwohnungen erzeugt haben. Es fehlt diesen Orten jedoch vollkommen der städtisch – atmosphärische Zusammenhang. Für Familien und ältere Menschen bestens geeignet konnte diese Stadtform die Wünsche und Vorstellungen der an „Stadt“ interessierten Bevölkerungsteile (auch Familien, auch Ältere, und noch viele mehr) nie wirklich befriedigen.
Eine echte Neuentwicklung der Gründerzeittypologie ließ die bisherige Form der BauNVO nicht richtig zu. Der Philosophie des Licht –Luft – Sonne Konzeptes folgend passten hier im WA weder die Dichtevorgaben noch die Abstandsflächen. Die Gebietstypen Mischgebiet bzw. Kerngebiet konnten aufgrund der vorgegebenen Nutzungsvorgaben und Mischungsanteile zwar eine gewisse bis hohe Dichte generieren, durch die erzwungene Mischung mit gewerblichem Anteil über 50% wird jedoch die dominierende städtische Wohnatmosphäre immer zurückgedrängt, es bleibt ein meist fremdes Nebeneinander.
Aus diesem „geplanten“ Defizit heraus ist der Druck auf die noch verfügbaren, gründerzeitlich geprägten Stadtbereiche ins Unermessliche gestiegen, die Effekte der Gentrifizierung müssen hier nicht weiter beschrieben werden, die Wohnungen in diesen Bereichen werden zum raren und fast unbezahlbaren Gut. Hinzu kommt der große Bedarf an neuen Wohnungen durch Zuzug, Migration und wieder steigenden Geburtenzahlen.
In diesem Zusammenhang erscheint die Einführung des „Urbanen Gebietes“ nun der richtige Baustein zu sein: Eine deutlich erhöhte Dichte im Zusammenspiel mit reduzierten Lärmwerten ermöglicht ein engeres, wirkliches Nebeneinander, vielleicht sogar ein Miteinander der unterschiedlichen Funktionen, also genau das was Stadt ausmacht: Dichte, Vielfalt und Überraschung. Mit diesem Werkzeug können wir nun eben genau jene Bereiche reurbanisieren die wir zunächst fein säuberlich getrennt haben. Machen wir damit ernst können wir uns den immensen Landschaftsverbrauch den wir über unsere neuen Großsiedlungen generieren sparen und damit vielleicht tatsächlich einmal nachhaltig und ökologisch an der Stadt weiterbauen.
… „hochwertige Architektur“ soll auf dem Werksgelände entstehen, meint Alfred Dürr, Süddeutsche Zeitung, 21.03.2017. Besonders hervorstechen soll eine Weiterentwicklung von MVRDV des holländischen Pavillons auf der EXPO 2000 in Hannover. Aber auch ein 24-stöckiges Hochhaus von Johannes Ernst, Steidle Architekten. Hild und K Architekten sind auch dabei. Da muss aber architektonisch und städtebaulich schon noch mehr passieren.
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/werksviertel-das-sind-die-nachbargebaeude-des-geplanten-konzertsaals-1.3429738