Prof. Ruth Berktold

Architektin und Hochschullehrerin, München

Architekten haben immer eine große Verantwortung, aber in solch extremen Umbruchzeiten umso mehr. Wir gestalten die Umwelt, und bestimmen entscheidend mit, wie Menschen leben. Wir haben jetzt die Chance, unsere Politiker zu beraten und uns Gehör für andere brisante Architektur- und Städtebauthemen zu verschaffen. Durch die Vielzahl der fehlenden Wohnungen entsteht ein gewisser Zugzwang, strikte Regulierungen aufzuheben und nach günstigeren, schneller baubaren Wohnformen zu suchen. Dies sollte aber nicht unseren Anspruch an Baukultur mindern, sondern im Gegenteil noch stärker für sie einzutreten. Da tut sich die Frage auf: Was ist genau Deutsche Baukultur? Wer und wie definiert die Maßstäbe? Wie Licht in die Architektur bringen?

Um die Zukunft voraussagen zu können, muss man sie Erfinden oder ‚Entwerfen’. „The best way to predict the future is to invent it“, hat schon Alan Kays gesagt.

Die Themen heute sind nicht nur Reagieren und Kleinklein. Das wäre nur ‚Piecemeal’ Flickarbeit. Wir müssen proaktiv denken, und uns gestellte Aufgaben dazu nützen, um über den Tellerrand zu blicken, und unsere Städte und Gemeinden, und die Architektur allgemein, auf Fragen wie New Mobility und Big Data zu hinterfragen und auszuzuwerten. Brauchen wir nur noch 20% aller Autos, und sind wir bereit, auf das wichtigste Statussymbol zu verzichten, brauchen wir weniger Stellplätze, weniger Parkhäuser, haben weniger Stau, weniger CO Ausschüttung und gleichzeitig mehr Platz für Wohnraum.

Wir brauchen schnelle Lösungen für leistbaren flexiblen Wohnraum für Studenten, Flüchtlinge, Lehrlinge, Ältere etc. , aber auch die Infrastruktur dazu. Dies wird mit neuen Konzepten und zunehmender Digitalisierung einhergehen. Smart Housing und das Internet of Things (IOT) und somit neue Gesundheitsapps werden zunehmend wichtiger in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Wenn wir jetzt nicht darüber nachdenken, sind wir wieder in einer ähnlichen Zwangssituation und können nicht gezielt und langfristig planen. Nicht nur durch den Zuzug vieler verschiedener Menschen aus anderen Kulturen, sondern auch durch die totale Vernetzung und immer mehr Daten, die über uns alle zur Verfügung stehen, werden Privatsphäre und auch Sicherheitsaspekte immer wichtiger, gewinnt der Faktor Heimat an Gewicht. Darin liegt aber genau die Chance, neue Gebäudetypologien, Raumprogramme, Produkte und Funktionen zu entwickeln. In jeder Veränderung liegt Bedrohung und immer erzeugt sie Angst. Niemand kann voraussagen, was sein wird und gerade deswegen können wir mehr denn je die Chance nützen und proaktiv an der Gestalt der Zukunft mitwirken.